Achter Beitrag der Grundlagen-Reihe
Aufbauend auf dem letzten Beitrag soll nun die Frage neu beantwortet werden, warum wir uns in der Coronakrise wirklich spalten – und vor allem so blitzartig. Bitte schrick vor der Länge dieses Beitrages nicht zurück. Lass es einfach einsinken, ruhen und reifen – denn wie gesagt ist die deutsche Frage nicht im intellektuellen Handstreich zu lösen. Zuvieles ging verloren oder wurde verborgen, ohne das kein Verständnis möglich ist.
Bilder in der Seele
Wie Dir vielleicht bei den vorherigen Beiträgen aufgefallen ist, verzichte ich weitgehend auf Zitate und die Wiedergabe langer Textstellen. Mein Anliegen sind nicht erschöpfende, hoch gelehrsame Betrachtungen, sondern zunächst einmal der Hinweis auf jedem bekannte Erlebnisse und deren Bedeutung. Etwa das Erlebnis absoluten Unverständnisses, warum sich manche bei „Mohrenkopf“ und anderen angeblichen „Unworten“ heute so ereifern. Das ist ja irgendwie nicht normal, oder?
Und genau dieses sich-Wundern hilft, sich nicht mit der erstbesten Erklärung zufrieden zu geben, die „logisch“ scheint, sondern dahinter anderes und Tieferes zu vermuten.
Nicht nur das Handeln bestimmende Glaubenssätze leben im Unterbewusstsein, sondern auch der Orientierung dienende Archetypen wie der König, die Hexe, die Mutter usw. Über all das geben wir uns normalerweise keine Rechenschaft, schon aus dem Grund, weil es nicht unterrichtet wird. Dazu gehört auch das Gebiet der karmischen Lebensimpulse, die einen wie traumwandlerisch die passenden Entscheidungen treffen lassen, um zu den richtigen Menschen oder Orten zu finden.
Es gibt eben viel mehr zwischen Himmel und Erde, als sich die heutige Schulweisheit träumen lässt – und über vieles davon hat Rudolf Steiner aufgeklärt.
Für eine der wichtigsten Stellen in unserem Kontext halte ich seine Aussagen über bestimmte Motive, die uns die Engel in die Seelen legen. Ich habe hier darüber berichtet unter der Überschrift „Was die Engel so tun“.
Eines dieser Bilder oder Motive ist, dass wir eine Sehnsucht nach einer Überwindung der Unterschiede hinsichtlich Abstammung, Hautfarbe etc. entwickeln, und somit nicht nur diejenigen „gleicher Art“ als unsere Nächsten lieben, sondern alle Menschen. Zitat:
„Es wirkt der Grundsatz, dass in der Zukunft kein Mensch Ruhe haben soll im Genusse von Glück, wenn andere neben ihm unglücklich sind. Es herrscht ein gewisser Impuls absolutester Brüderlichkeit, absolutester Vereinheitlichung des Menschengeschlechtes, richtig verstandener Brüderlichkeit mit Bezug auf die sozialen Zustände im physischen Leben.“
Was kommen soll, ist mit anderen Worten eine globale Wirtschaft, die nicht mehr von egoistischen Konzerninteressen gesteuert wird, sondern wo wir uns um eine solche Teilung der natürlichen Reichtümer bemühen, so dass für jeden nach seinen Bedürfnissen gesorgt ist. Denn unabhängig von Herkunft, Aussehen oder Nationalität sind wir doch alle Kinder der Mutter Erde, und alle sind wir bedürftige Wesen. Jeder hat Hunger und Durst, jeder muss auf Toilette und hat mal Bauchweh, wird alt und siech.
Im falschen Hals
Insofern sind wir Teil einer großen Familie, wo man aus geschwisterlicher Verbundenheit über alle Unterschiede hinweg füreinander sorgen sollte. Der Fischschwarm gehört einem Land nicht, nur weil er durch dessen Hoheitsgewässer zieht. Ressourcen wollen geschwisterlich und bedarfsgerecht geteilt werden, und dafür braucht es ein übernational-globales Denken und Empfinden.
Das will heute werden und lebt als Motiv in den Seelen.
Im gleichen Vortrag klärt Rudolf Steiner aber auch über die Folgen auf, wenn dieser Impuls (z.B. mangels Kenntnis darüber) nicht bewusst aufgegriffen wird. Dann rutscht der Impuls vom Herzen, wo er als Gefühl hingehört, in den Bauch und gewissermaßen unter die Gürtellinie.
Er wird dann zum Trieb und Instinkt, der sich mit wüsten Emotionen Bahn bricht.
Mein Beispiel aus dem verlinkten Beitrag ist, dass wir – statt das Bild anderer Menschen durch liebevolle Betrachtung in unsere Seele aufzunehmen und sie am Herzen zu tragen – wir sie uns physisch einverleiben wollen. Das beginnt mit wachsender Sexgier, die sich zu Erniedrigungs- und Vergewaltigungsphantasien steigert (Sado-Maso) und mündet schließlich in Kannibalismus. Im wahrsten Sinne des Wortes haben wir uns dann zum Fressen gern.
Das ist wahre Seelenkunde, denn sie bewahrheitet sich an den Phänomenen der Zeit.
Etwas Gutes will also werden, wie weltweite Geschwisterlichkeit, doch wenn der Impuls auf die falsche Ebene kommt, wird er verzerrt und paart sich mit wilden Emotionen in unkrontrollierten Gefühlsausbrüchen. Wer das weiß, blickt auf diese Mohrenkopf-Affäre mit ganz anderen Augen.
Besonders in der Generation der in den 90ern Geborenen werden solche Debatten in einer erstaunlichen Hitzigkeit geführt, die an die alte Inquisition erinnert. Mit an Manie grenzender, verblüffender Energie forscht man nach Worten oder Aussagen, die den Tatbestand der Hassrede erfüllen (sollen) – und wehe dem, der sie verwendet.
Woher die Emotion?
Nun kann man sich zwar kopfschüttelnd abwenden, meinetwegen auch lachend, doch ich halte für sehr wichtig zu verstehen, was da vor sich geht. Die großen Rätsel der Zeit liegen direkt vor unserer Nase, und wer sie dort nicht bemerkt und als Rätsel empfindet, wird mit späteren Betrachtungen zur Wirkung von Kampfbegriffen wie dem Nazi oder zur Kollektivschuld auch nichts anfangen können.
Als Vorschau nur eine kurze Notiz zum Thema „darf man noch Schwarzer sagen“.
Was in vielen selbst geführten oder beobachteten Diskussionen nie zur Sprache kam, ist das eigentliche Problem – nämlich die Unterstellung, der Gebrauch eines Wortes sei immer mit einer bestimmten inneren Haltung verbunden.
Also nur weil jemand einmal Neger oder Schwarzer als Synomym für dumm oder gar Untermensch gebraucht hat, würde ich bei Verwendung eines Wortes diese Haltung teilen. Das wahre Anliegen der Wortverbrenner (früher waren es Bücher) sind nicht die Worte selbst; ohne es zu wissen treten sie dafür ein, dass man vom Äußeren nicht pauschal aufs Innere schließen soll.
Das ist der auf verständnisvolle Geschwisterlichkeit zielende, wahre Impuls.
Sie wollen etwas, das wir im vierten Beitrag thematisierten: nämlich eine Fragekultur zu befördern, um die Motive hinter jemandes Handeln kennenzulernen. Also nicht vorschnell zu urteilen, sondern unvoreingenommen an Menschen heranzugehen. Dieses Anliegen ist mehr als berechtigt, doch weil es als solches nicht erkannt und formuliert wird, drängt es auf völlig verquere Art in die Seelen.
Denn es ist ja verquer, das Wort zu verbieten, anstatt über die Haltung des Verwenders zu sprechen.
Und regelrecht irre wird es, wenn wir irgendwann nicht mehr Autobahn sagen dürfen, weil Herr Hitler welche bauen ließ. Aber nochmal: die unausgesprochene Unterstellung ist das Problem, ich sei dann einem Hitler gleich und ebenfalls – ja was denn eigentlich? Ein potentieller Massenmörder, oder…? Auch das wird nie präzisiert (warum das so ist, wird bei den Kampfbegriffen noch deutlich werden).
Flüchtlinge raus oder rein?
Bevor wir zur Neu-Deutung der Coronakrise kommen, lasst sie uns weiter vorbereiten mit einem Blick auf die Krise davor – die Flüchtlingskrise. Auch dort gab es ja zwei Lager, These und Antithese, zwei zueinander polare Positionen.
- Da gab es die Heimatschützer mit Sorge vor Überfremdung, die genau prüfen wollten, wer da mit welchen Motiven kommt,
- und die anderen, die jeden ohne Prüfung in die gute Stube lassen wollten – denn die sind ja in Not und brauchen Hilfe.
Könnte man das in etwa so zusammenfassen?
Ich bitte zu bemerken, dass Du einer Premiere beiwohnst, denn nirgendwo werden die Positionen so auf das Wesentliche reduziert, und zudem als zueinander polar beschrieben. Doch was genau ist die Polarität, was ist das jeweilige (unbewusste) Grundmotiv, das die Menschen antreibt?
Nun, wir haben sie im letzten Beitrag indirekt schon kennengelernt mit den Paarungen:
Empfänglichkeit – Unbeeinflussbarkeit
Alles annehmen – Unterscheiden können
Liebe – Gleichgültigkeit
Diese drei haben einen gemeinsamen Nenner, auf den ich aber erst durch die vertiefte Beschäftigung mit männlich-weiblicher Eigenart kam. Bauen wir das Bild etwas aus:
- Die einen wollten die um Hilfe Ersuchenden kontrollieren, und wissen wer da kommt, welche Qualifikation jemand mitbringt und wie es um den Charakter bestellt ist. Sie sehen dem Individuum ins Gesicht und auf die Finger.
- Die anderen tun genau das nicht, sondern sehen auf das überindividuelle, menschlich Allgemeine. Sie sagen, dass wir doch alle Kinder Gottes sind, und von daher – ohne Ansehen der Person (!) – ein grundsätzliches Anrecht auf Schutz, Nahrung und eben Versorgung haben.
Ich gegen Wir
Zwei Sätze sind wichtig, nämlich:
- dem Individuum ins Gesicht sehen und es auf seine Anlagen / Fähigkeiten prüfen
- ohne Ansehen der Person allgemeinmenschliche Bedürfnisse der Menschen-Kinder stillen
Das wird vollends verständlich, wenn wir unsere inneren Bilder befragen, was eine wahre, urbildhafte Mutter tut.
Sie sorgt für alle Kinder, ohne auf Aussehen und andere Äußerlichkeiten zu achten, richtig? Sie macht keine Unterscheidung, wessen Kind das ist, sondern sie stillt und beruhigt es, wenn es schreit. Mutterliebe gilt nicht der speziellen Person aus dem Hause XY, sondern antwortet auf Bedürftigkeit ohne Ansehen der Person.
Hier taucht der Satz von oben wieder auf.
Wer das Menschenkind als Person und eigenverantwortliches Individuum näher in Augenschein nimmt und sich Leumundszeugnisse zeigen lässt, das ist der Vater. Denn sein Job ist nicht die Grundversorgung, sondern die Entwicklung der Anlagen in einem Menschenkind. Wir sind ja nicht nur (hilfs-) bedürftige, sondern auch strebende Wesen, die etwas aus sich machen wollen.
Das ist die klassisch väterliche Domäne.
„Muttern“ versorgt erstmal alle, die Kinder, Kranken, Schwachen und Alten. Alle (!) bemutternd gibt sie jedem nach seinem Bedürfnis. Dann kommt der Vater und fragt: wer bist du, was kannst du und was hast du beizutragen? Sie fällt kein Urteil über gut oder schlecht, klug oder dumm, sondern heißt alle Geschöpfe Gottes im Garten des Lebens willkommen.
Auslese zu betreiben, das ist die Aufgabe des gärtnernden männlichen Prinzips, das für Kulturentwicklung verantwortlich ist.
Wohlgemerkt: das ist nicht die Aufgabe der biologischen Männer, sondern des männlichen Prinzips.
Dieses fordert Leistung und beurteilt sie; er mutet Anstrengungen zu, damit sich veranlagte Fähigkeiten entfalten können. Er schaut auf die individuelle Person, und was sie aus ihren Anlagen gemacht hat. Ist es ein Prinz oder ein Schweinehund? Können wir dem trauen und Verantwortung übergeben? Die Mutter hingegen kümmert sich nur darum, das Menschen-Kind durch rechte Pflege und Umsorgung in den Stand zu versetzen, etwas aus sich zu machen.
Kampf der Urprinzipien
Ist das nachvollziehbar?
Die warm umsorgende, verständisvolle Mutter, und der sich um die Zukunft seiner Sprösslinge sorgende, streng prüfende Vater? Leben diese Bilder in unserer Seele oder nicht? Und können wir sie so stehen lassen, ohne daraus Rollenbilder abzuleiten, wie „die Frau gehört an den Herd“? Denn das ist ein fataler Fehler.
Fazit: diese zwei Prinzipien standen sich als Seelenhaltung in der Flüchtlingskrise im Streit gegenüber. Die Menschen haben einseitig Partei ergriffen für eines von zwei Urprinzipien des Daseins – die aber eigentlich zusammengehören!
Denn damit es gesund ist, braucht es Ausgewogenheit zwischen „Alles annehmen – Unterscheiden können“, zwischen totaler Bedürfnisstillung und Förderung der Eigenständigkeit, zwischen allverzeihender Liebe und Charakterprüfung. Und auch die Hilfsbereitschaft muss Grenzen haben. Klar, das kann wohl jeder verstehen, doch wir sind eben nicht gewohnt, in Polaritäten und Urmotiven zu denken. Deshalb entzieht sich dem Verständnis, worüber wir in der Flüchtlingskrise wirklich stritten.
Und in der Coronakrise, worüber streiten wir da nun wirklich? Und warum die tiefen, heftigen Emotionen?
Betrachten wir dazu die verwendeten Schlagworte, deren Zweck es ist, Uremotionen zu triggern. Sei Dir bewusst, dass wir es mit magischen, seelenwirksamen Begriffen zu tun haben. Sie werden nachfolgend fett hervorgehoben und anschließend ins Bild gesetzt.
Die Befürworter der Maßnahmen
Die einen glauben der Regierung und an eine grassierende Seuche. Um sich und andere zu schützen, zieht man sich aus Rücksichtnahme zurück und leistet bereitwillig Verzicht. Nicht wenige empfinden sogar Stolz auf praktizierte Solidarität – deren Fehlen sie der anderen Seite vorwerfen. Da werden sie schnell zum Verteidiger der Gemeinschaft, die Solidaritätsverweigerer mit der Anklage zur Rede stellen: wegen dir können Menschen krank werden oder sterben, und wegen Leuten wie dir wird der Lockdown gar nicht enden. Du Egoist!
Es ist eine radikale Haltung, die sich auch Einwendungen verschließt, z.B. ob der Ruin der Wirtschaft nicht ein etwas hoher Preis ist. Man muss halt Opfer bringen, heißt es dann, und das gehe ja auch mal wieder vorbei. Geduld und der unbedingte Glaube an die verordneten Maßnahmen, die Politiker und der von ihnen befragten Wissenschaftler spielen eine große Rolle.
Die Gegner der Maßnahmen
Die anderen fügten sich zunächst auch, wurden durch verschiedene Ungereimtheiten aber bald misstrauisch und hinterfragen. Ist der PCR-Test überhaupt zuverlässig? Gibt es Beweise für den Virus und seine Gefährlichkeit? Gehen die genannten Toten wirklich auf sein Konto, oder wird hier (mal wieder) mit Zahlen gespielt? Wirken die verordneten Maßnahmen bei einer solchen Seuche überhaupt, und warum werden keine Gegenstimmen gehört? Was ist mit den Alten und Kindern, und was mit der Wirtschaft?
Menschen dieser Gruppe fühlen sich in ihrer Intelligenz beleidigt, und sind erbost über die Beschneidung gesetzlich garantierter Rechte. „Nicht mit mir“, sagen sie, und machen aktiv von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch. Sie zeigen Gesicht und bekennen sich kämpferisch zu ihrer Meinung, die ihnen die andere Gruppe verbieten will. Sie verweigern den Gehorsam und stellen Forderungen – also im Kontrast zu den anderen, denen sie schlafmützige Fügsamkeit vorwerfen. Sie rufen nach der Freiheit, wie vorher wieder selbst entscheiden zu dürfen, ob man sich schützt oder auf das Immunsystem vertraut, für dessen Stärkung ja jeder selbst verantwortlich ist.
Zusammenschau der Grundmotive
Es stehen sich zwei Extreme gegenüber, deren Schlüsselworte und Grundmotive lauten:
a) Gemeinschaft, Zusammenhalt (Solidarität), das Überleben sichern, Rücksicht, Verzicht, Glaube, risikoscheuer Rückzug,
b) Individuelle Rechte, als Einzelner Gesicht zeigen, Lösungen finden, Fordern, Aufbegehren, Wissen, risikobereites Selbstvertrauen.
Hier noch einmal in der Gegenüberstellung. Was fällt Dir auf?
Gemeinschaft | Individuelle Rechte |
Zusammenhalt (Solidarität) | als Einzelner Gesicht zeigen |
das Überleben sichern | Lösungen finden |
Rücksicht | Fordern |
Verzicht | Aufbegehren |
Glaube | Wissen |
risikoscheuer Rückzug | risikobereites Selbstvertrauen |
Dass es komplementäre Eigenschaften sind, wird am Paar risikoscheuer Rückzug – risikobereites Selbstvertrauen sehr anschaulich. Doch wenn es Dir wie mir anfangs geht, dann sticht hier ansonsten nichts weiter raus.
Wir registrieren zwar durchaus den Gegensatz zwischen
„Gemeinschaft – Individuelle Rechte“, fragen uns aber gleichzeitig: warum sollte man in Gemeinschaft auf individuelle Rechte denn verzichten müssen? Auf einer sehr geselligen Party darf ja dennoch jeder entscheiden, was er gerne trinken mag.
Genau das ist eigentlich normal.
Doch manchmal dominiert ein Prinzip, was im Sprichwort „sich eine Extrawurst braten“ zum Ausdruck kommt. Das heißt, jeder hat nur zu nehmen, was ihm zugestanden wird – z.B. wenn die Lebensmittel knapp werden und man zusammenhalten muss. Dann werden individuelle Rechte außer Kraft gesetzt!
Was aber ist mit dem Begriffspaar „Glauben – Wissen“? Sind sie auch komplementär, oder nicht eher einander ausschließende Gegensätze?
Zumindest kennen wir sie nur als sich bekämpfende Lebenshaltungen. Zwischen denen, die einfach glauben, dass es Gott (oder einen Virus) gibt, und den anderen, die Beweise wollen. Entweder steht man auf der einen, oder auf der anderen Seite – und zwar völlig unabhängig von der Lebenssituation. Oder?
Tatsächlich sind sie als zwei Seiten derselben Medaille durchaus vereinbar, sofern wir eine gläubige Haltung nicht einseitig als dumm und unaufgeklärt verurteilen. Glaube hat noch ganz andere, kaum je erwähnte Bedeutungen, die mit Vertrauen und Hingabefähigkeit zu tun haben.
Tatsächlich bewegt sich ein Glaubender in einer ganz anderen Sphäre als ein Wissender!
Nackt und allein für sich stehend verrät das Substantiv „Glaube“ nicht, worum es geht. Doch was tut ein Glaubender? Er ist voll Hoffnung, dass „ihn der Herr weide auf grünen Auen und führe zum frischen Wasser“.
Das ist der Erlebnisinhalt des Begriffs, und um Erlebnisse geht es auch bei diesen Ausdrücken.
- himmelhochjauchzend / zu Tode betrübt
- geistige Höhenflüge / in ein Loch fallen
- abgehoben / geerdet
- sich erleichtert fühlen / Lasten auf den Schultern tragen
- innere Leichtigkeit empfinden / bleierne Schwere
- Bäume ausreißen können / sich kraftlos fühlen
- Überflieger / bodenständig
- auf Wolke sieben schweben / abgrundtief erschrecken
- einen Einfall haben / Erinnerungen hervorkramen, die aus der Tiefe aufsteigen
Ego- und Wirsein
Was meinst Du, wer höhere Mächte eher um Beistand bitten wird – der abgrundtief Erschrockene, oder der auf Wolke sieben schwebt? Der Bodenständige, oder der Überflieger? Und in welcher Sphäre werden wir die „Wissenden“ finden?
Neue Bezüge können hier sichtbar werden, dass nämlich Glaube mit Gemeinschaft und Tiefe zu hat, wie Wissen mit Höhe und dem Fordern individueller Rechte.
Es sind zwei konträre Erlebniswelten, die durch die von Goethe formulierten zwei Seelen verständlich werden.
Deren eine will erkenntnissuchend zum Himmel stürmen, während sich die andere lustvoll an die Erde und das Leben klammert.
Ich würde wie folgt ergänzen: jede dieser „Seelen“ meint eine grundlegende Daseinsempfindung des Auf- oder Absteigens in unterschiedliche Sphären. Wir können sie auch Reiche nennen, das Lichtreich und das der Finsternis.
Wir erinnern uns an die Goethesche Farblehre (letzter Beitrag), wo Finsternis nicht als Abwesenheit von Licht, sondern als eigenständige Wesenheit begriffen wird.
- Als Ego und nach Erkenntnis strebende, denkende Individualität bin ich ganz bei mir, und muss Grenzen setzen, um mein Eigensein nicht zu verlieren.
- Im lachend-rauschhaften Getümmel einer Feier aber lösen sich die Grenzen auf, und wir gehen in die Verschmelzung.
Hier tauchen die aus der Flüchtlingskrise bekannten Motive wieder auf, nämlich die über Folgen nachdenkenden Grenzzieher, und die euphorischen Weltumarmer mit grenzenloser Hilfsbereitschaft, die einfach jeden in die Arme schließen wollen.
Eine Bitte
Versuche, Bezeichnungen wie Ego nicht gleich mit dem Dir bekannten Inhalt zu füllen, weil sie einen eigenen / neuen Inhalt bekommen sollen.
Auf den ersten Blick bin „Ich“ das, was von meiner Haut umhüllt und nach außen begrenzt ist. „Wir“ dagegen scheint nur eine Summe solch abgeschlossener Individuen zu meinen. Physisch gesehen stimmt das, doch seelisch kann ich „bei mir sein & außer mir sein“. So wie wir im steten Wechsel ein- und ausatmen, so kommen wir im Denken zu uns selbst, gehen nach innen und ziehen Grenzen nach außen. Nimmt der Zustand überhand, kommen wir am Ende nicht mehr aus uns heraus und geraten in die innere Isolation.
Auf der anderen Seite können wir uns seelisch weiten, nach außen gehen und in die Seelen der anderen eintauchen. Dann sind wir selbstvergessen, und gehen im Geschehen um uns herum auf. In der Überzeichnung verlieren wir das Selbstbewusstsein und geraten außer uns.
Beide Zustände finden sich auch in der kindlichen Entwicklung im zeitlichen Nacheinander wieder.
Jemand werden
Wenn wir auf die Welt kommen, haben wir weder von ihr ein Bewusstsein, noch von uns selbst. Alles ist eins, wir sind selbstvergessen und deshalb mit allem verbunden – sprich im Wir.
(„Im Wir sein“ geht nach meiner Definition mit Selbstvergessenheit und „bei den anderen sein“ einher, mit dem Vergessen von Zeit und Raum und dem Verschwimmen von Grenzen.)
Erwachsen werden hat mit stufenweisem „zu sich kommen“ zu tun, mit Abnabelung und Trennung aus der Verbundenheit. Diese steigert sich (idealerweise) zur pupertären Revolte gegen die Eltern. Zunehmend erleben wir Einsamkeit, die aber Voraussetzung ist, um uns (selbstbezogen-egoistisch) auf eigene Beine zu stellen.
Egoismus ist prinzipiell nichts Schlechtes, sondern meint schlicht die Kraft, das Eigensein zu erhalten.
Ich muss atmen, und meinen Teil an Nahrung und auch Freiraum beanspruchen, um nicht in der Selbstentäußerung zu landen. Nur wenn ich meine Ansprüche über Gebühr ausdehne, ist der Vorwurf des Egoismus berechtigt.
Wie wir anfangs selig im wiegenden Arm der Mutter schlummern, treten wir nun immer wacher ins Reich des Egoseins. Dort, wo man sich behauptet und was aus sich macht – sich ein Profil gibt und profiliert. Heute nennen wir es aufsteigen oder Karriere machen.
Gelingt der Aufstieg, ragt man als Einzigartiger aus der so genannten grauen oder gesichtslosen Masse heraus, und gelangt vielleicht sogar zur Macht – an den Machtpol „dort oben“. Dort werden die Gesetze gemacht und es gelten klare Regeln in einer (männlichen) Hierarchie. Da wird nicht geschmust wie in der Familie und Gemeinschaft unten, sondern konkurriert – denn es kann nur einen Besten geben.
Am unteren Pol zählt das Individuum wenig bis gar nichts, weil da jeder nur eine Rolle zum Erhalt der Gemeinschaft zu spielen hat. Als Teil einer Gemeinschaft ist man gesellig – und als Geselle einer unter vielen.
Da muss jeder ohne Unterschied mit anpacken, und ist wie bei Waldameisen prinzipiell ersetzbar. Wichtig ist nur, dass die Arbeit gemacht und jeder versorgt wird. Da hilft man sich und hält zusammen, so dass jeder ohne Ansehen der Person (s.o.) bekommt, was er zum Leben braucht. Es ist der versorgend-nährende Mutterpol, für das als Bild das dunkle, fruchtbare Erdreich dienen mag, mit seinem unüberschaubarem Gewimmel an Leben – aber auch Fäulnis, Tod und Verwandlung.
Diese beiden Pole oder Reiche in uns sind es, die sich in der Coronakrise bekämpfen. Ego und Wir, Macht und Ohnmacht, sich sorgend Abgrenzen und umsorgend Entgrenzen.
Loslassen und einfach werden
Doch sehen wir noch ein wenig weiter.
Wenn man wie ein Dichter mit den Begriffen spielt, statt sie nur zu analysieren, dann bemerkt man z.B. die Verwandschaft zwischen Gemeinschaft und Zusammenhalt, für den man auf Eigensinn verzichten und erdulden können muss. Geduld braucht es auch, um Dinge ruhen und reifen lassen zu können, und nicht alles zu hinterfragen, sondern anzunehmen, was höhere Mächte und Gewalten einem als Los bescheren. Das alles gehört zum unteren Reich des Wir, des gemeinschaftlich Seins und ein Kind der großen Mutter.
Von dort ist es nur noch ein kleiner Sprung zum Glauben, oder genauer zur gläubig-loslassend-vertrauenden Hingabe.
Dies ist ein Seelenzustand, den anzunehmen jene üben müssen, die im Burnout landen. Vom Leben selbst bekommen sie die Aufgabe, einen Zustand wieder kennenzulernen, den man früher „einfaches Volk“ nannte. Das war nicht nur die Bezeichnung für eine gesellschaftliche Stellung, sondern auch für eine seelische Verfassung.
Schlicht und einfach (gestrickt) nahm das bäuerlich-gemüthafte Volk hin, was kam, und man stellte sein Leben in den Dienst der Kreaturen, die dem eigenen Leben den Rhythmus diktieren. Da zählt nicht, ob ich jetzt verreisen will, sondern ob alle (mütterlich) versorgt sind – nach ihrem Bedarf und zu ihrer Zeit. Wo nicht interessiert, ob ich jetzt gleich dieses oder jenes haben möchte, sondern was nötig und jetzt möglich ist. So wie auch der Körper Grenzen hat, was einer im Burnout mühsam lernen muss, zu akzeptieren.
Die andere Seite des Lebens ist die des kühnen Helden am Herrscherhof, des Machers und des Pioniers – der auszieht zu großen Taten. Um Ruhm zu ernten und um Siege zu erringen, von denen man sich daheim am (einfachen) Herd noch lange erzählen wird. Da macht man was aus den Anlagen, die von der Gemeinschaft gepflegt wurden, und wird Doktor und gar Superstar. Da bin ich mir selbst der Nächste, und muss es sein, denn es wird nur Ritter, der den Drachen tötet.
Und nicht die Natur diktiert den rechten Zeitpunkt für die Tat (Eile mit Weile), sondern kühnes Erfassen der günstigen Gelegenheit (der frühe Vogel fängt den Wurm).
Ich könnte noch ewig so fortfahren, doch jeder dürfte die Motive kennen. Nur macht man sich selten klar, dass sie ganz gegensätzlich sind – einfach deshalb, weil Held und Volk, Macht und Ohnmacht normalerweise schön zusammenspielen. Denn was wäre der Held, wenn niemand an ihn glaubte? Glauben meint eben auch die Kraft, Vertrauen aufzubringen, dass alles gut wird und zu seiner Zeit schon werden wird.
Wie müssen Glaube und Wissen zusammenspielen?
Nachdem wir die Motive nun ausreichend unterfüttert haben, können wir nun mit anderen, gewissermaßen mythologischen Augen auf die zwei Lager in der Coronakrise blicken.
- die einen sind in ergebener Gläubigkeit zur Selbstaufopferung bereit. Leben erhalten um jeden Preis – auch um den Preis des völligen Zusammenbruchs der Wirtschaft.
- die anderen reden auch von Wir, meinen aber sich und ihre individuellen Freiheitsrechte.
Erstere glauben, die anderen (glauben zu) wissen.
Die Lektion aus Corona ist nach meiner Analyse folgende: Zusammenleben in heutiger Zeit ist nur möglich, wenn jeder mit den beiden Sphären des Daseins vertraut ist und umgehen kann. Mal muss ich mich selbst ermächtigen und denkend auf eigene Füße stellen, mal braucht es das Zurücknehmen der eigenen Wichtigkeit zugunsten des geduldig-bescheidenen Lauschens auf die anderen.
Sprich ein Schwingen zwischen Ego und Wir um eine Mitte.
Aus höherer Perspektive fordert uns die Coronaprüfung dazu heraus, echte Bürger zweier Welten zu werden: zum einen nach Selbstverwirklichung zu streben, was klare Standpunkte braucht, Selbstbehauptung und Konkurrenzdenken. Auf der anderen Seite aber die Kraft der Hingabe zu pflegen, das Zurücknehmen der eigenen Meinung und das verständnisvolle Einleben in andere Denk- und Empfindungswelten. Also einmal König und Tonangeber sein, dann wieder einer vom duldenden, einfachen Volk. Zwischen diesen Polen entfaltet sich unser Dasein als Mensch.
Zur Vertiefung empfehle ich sehr herzlich diesen Beitrag.
Des Rätsels Lösung
Erinnern wir uns zum Finale nochmal an die unbeherrschte Emotionalität von oben. Wir werteten sie als Hinweis, dass da etwas auf die falsche Ebene gerutscht ist und instinkthaft-triebgesteuert wird.
Hoch emotional reagieren insbesondere die Begrüßer oder Dulder der Coronamaßnahmen, und zwar mit heftiger Abwehr aller Argumente von der Gegenseite. Um im Bild der Mutter zu bleiben wäre das, als würde sie nicht hören wollen, dass die Vorratskammer bald leer ist. Oder dass sich ein Unhold ins Krankenlager eingeschlichen hat, welcher der Gemeinschaft schaden möchte. Eine normale, echte Mutter würde auf den Vater hören – doch warum ist das in der Coronakrise nicht möglich?
Warum werden die Aufklärer als Feind angesehen?
Nun, das hat mit dem im sechsten Beitrag eingeführten Stockholm-Syndrom zu tun. Ein Trauma in Verbindung mit extremer Angst ist in der Lage, jede Rationalität auszuschalten und gesunde Verhältnisse umzukehren. Man beginnt, den Vergewaltiger zu lieben – und verteidigt ihn sogar gegenüber Kritikern. Normalerweise spielen der obere Verstandesmensch, und der emotionale, gläubig-vertrauende Gemeinschaftsmensch harmonisch zusammen.
Doch wenn die Mitte ausgeschaltet ist, können sie das nicht mehr.
Der Bauch bekämpft den Verstand und verschließt sich dem Wissen. Jenseits aller Ratio nimmt er alles nur noch auf Glauben hin – und zwar vom Vergewaltiger (Staat). Ihn zu hinterfragen würde jene Existenzangst erneut auslösen, aus der man sich in den irrationalen Glauben gerettet hat.
„Wir schaffen das“ sagt die „Mutti“, obwohl doch sie es war, die das Land ohne jede Prüfung mit Leuten geflutet hat, die scharenweise Frauen und Mädchen vergewaltigten und töteten.
Genau der gleiche, traumatisierende Widerspruch wie beim Entführer, der einem Essen und Überleben bietet, wenn man kooperiert. Wer diese Grenze überschreitet, gerät in psychische Gefangenschaft, mit der wir es bei den Regierungsgläubigen zu tun haben.
Die andere Seite wiederum mag von Wir sprechen, in „wir müssen uns wehren“, doch hinter diesem Wir steht kein sich gemeinschaftlich, duldsam verbinden wollen. Vielmehr das antisoziale Pochen auf individuelle Rechte und die Angst, was aus mir werden soll, wenn das so weitergeht. Ein Beleg für mangelnden Gemeinschaftsgeist ist die Geschwindigkeit, mit der man sich in den Protestbewegungen anfeindet und spaltet.
Des Rätsels Lösung
Was also ist der Ausweg?
Der Hegelschen Dialektik folgend hilft nur, die Szenerie von oben zu betrachten. Sich also aus der eigenen Position im pro oder contra zu lösen, und die andere einzunehmen – und zwar unter dem Blickwinkel der hier geschilderten Urmotive.
Die Aufklärer werden bemerken, dass sie ganz grundsätzlich ein Problem mit Vertrauen haben, mit schlichter Annahme dessen, was einem das Leben beschert. In der Selbsthinterfragung tauchen dann die wahren Motive auf, wie z.B., es gerne immer besser wissen oder herausragen zu wollen.
Die Gläubigen wiederum können ihr Fehlen an Durchsetzungskraft bemerken, oder dass sie ihr Fähnchen auch sonst im Leben gerne nach dem Wind richten, nicht selbst denken, sondern das finale Urteil anderen überlassen. Der Herr Doktor sagt, ich brauch ne Spritze! Doch kann man die Verantwortung für das eigene Leben oder das der Liebsten an irgendjemand abgeben? Ist es richtig, die von anderen gestalteten (gesellschaftlichen) Verhältnisse immer achselzuckend hinzunehmen? Sie nicht mitzugestalten und auch mal den Mund aufzumachen?
All das erscheint in der Selbsthinterfragung und ist erstmal unangenehm.
Dann aber kann man sich um Ausgleich bemühen und mehr und mehr die großgeistige Position einnehmen mit der Frage: wie müssten wir zusammenspielen, damit Vater- und Mutterpol, Ego- und Gemeinschaftsbedürfnisse in Einklang sind?
So fragend wird man souverän und selbst zum guten Hirten, statt die Wölfe im Schafspelz dort oben weiter zu dulden.
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