Die Geheimnisse hinter den Kulissen
„Es ist durch Jahrhunderte hindurch die Menschheit dazu gekommen, immer weniger und weniger hinzuschauen auf die geistige Welt. Wir reden mit Recht davon, dass die letzten Jahrhunderte eine materialistische Zeit eingeleitet haben, dass diese materialistische Zeit nicht nur das menschliche Denken ergriffen hat, sondern auch das menschliche Wollen, das menschliche Tun, dass das ganze Leben nach und nach in das Zeichen des Materialismus eingetreten ist. Und wir werden uns dann bewusst innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, dass diese der Erwecker von Kräften sein möchte, welche die Menschen wiederum herausführen aus dem Haften am Materiellen, an demjenigen, was das Geistige verleugnet.
Allein, soll die anthroposophische Bewegung der Impuls innerhalb der Gesamtentwickelung der Menschheit werden, der notwendig ist, dann muss mit alledem, was jetzt schon seit Jahren an Lehren, an Weisheitsgütern durch die anthroposophische Bewegung geflossen ist, voller Ernst gemacht werden. Dann muss zum Beispiel einmal ganz ernsthaftig ins Auge gefasst werden: Wie lebt denn der gegenwärtige Mensch innerhalb der Welt?
Er lebt sich herein durch die Geburt, indem er die von Eltern und Voreltern vererbten Merkmale annimmt, indem er sich erziehen lässt nach den Anschauungen, die nun schon einmal üblich sind in der Gegenwart, indem er in einer gewissen Zeit seines Lebens sich bewusst wird, gewissermaßen aufwacht zum äußeren Leben. Dann schaut er wohl auch hin auf dasjenige, was in seiner Umgebung an Anschauungen, an Gedanken, an Taten, Impulsen und so weiter vorhanden ist. Er versucht sich zu verstehen als ein Glied seiner Nation, versucht sich zu verstehen als ein Glied der gegenwärtigen Menschheit und so weiter.
In der anthroposophischen Bewegung nehmen wir die leuchtende, feurige Wahrheit auf: So, wie wir hier sitzen, so sind wir in diesem Leben – in der Wiederholung früherer Erdenleben. Wir tragen herein aus früheren Erdenleben in dieses jetzige die Ergebnisse der früheren Erdenleben. Und wir müssten uns eigentlich so fühlen, dass wir nicht nur zurückschauen auf dasjenige, was wir innerhalb unserer gegenwärtigen Nation, innerhalb der gegenwärtigen Menschheit sind, wir müssten uns fühlen als tastend herankommend an dieses Leben, indem wir durchgegangen sind durch eine Reihe von Erdenleben und in anderen Leben zwischen Tod und einer neuen Geburt an unserem Selbst gearbeitet haben, an unserem Ich, an unserer Individualität, um uns zu dem zu machen, was wir heute sind.
Aber wie weit ist eigentlich noch das alltägliche Bewusstsein des Menschen entfernt davon, ganz Ernst zu machen mit dem: Ja, ich bin durchgegangen durch frühere Erdenleben, ich rechne mit diesen früheren Erdenleben! Man wird das aber bei sich nicht können, wenn man nicht alle Lebensbetrachtung in den Gesichtspunkt des Karmas rückt, der Schicksalsbildung, die von Erdenleben zu Erdenleben geht. Vor allen Dingen muss dann ja aber das geschichtliche Leben der Menschheit in einen solchen Gesichtspunkt gerückt werden. Wir müssen uns dann sagen:
Da oder dort ist eine maßgebende Persönlichkeit aufgetreten, die Wichtiges gewirkt hat in der Menschheit. Verstehen wir sie denn, wenn wir sie nur geboren werden sehen in einem bestimmten Zeitpunkt, das Erdenleben durchlaufend, nur sie betrachtend nach denjenigen Inhalten, die sie in diesem einen Erdenleben hatte? Müssen wir denn nicht vielmehr, wenn wir Ernst machen wollen mit den Lehren, die durch die anthroposophische Bewegung fließen, uns sagen: Wir schauen hin auf eine Persönlichkeit; die stellt ja in ihrem heutigen oder in ihrem letzten Erdenleben die Wiederholung früherer Erdenleben dar, und wir können sie nicht verstehen, wenn wir sie nicht so auffassen, wie sie sich darstellt, mit den Ergebnissen früherer Erdenleben.
Wenn wir aber mit einer solchen Auffassung, mit einem solchen Gesichtspunkt Ernst machen, müssen wir ja eine ganz andere Geschichtsbetrachtung eintreten lassen als diejenige, die heute allgemein üblich ist. Heute erzählt man die Tatsachen der verschiedenen Epochen der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit. Man kommt zu einem Staatsmann, zu einem Maler, zu irgendeiner sonstigen bedeutenden Persönlichkeit. Man erzählt, was sie seit ihrer Geburt getan hat auf Erden. Aber man macht nicht Ernst damit, die Sache so aufzufassen: Diese Persönlichkeit ist da; frühere Erdenleben leuchten in das Gegenwärtige dieser Persönlichkeit herein. Man wird aber die Geschichte erst dann verstehen, wenn man wissen wird: Dasjenige, was in einer späteren Epoche geschieht, tragen ja die Menschen selber aus früheren Epochen in die späteren herüber. Die Menschen, die heute leben oder die vor Jahrhunderten gelebt haben, haben auch schon früher gelebt und tragen aus alten Zeiten dasjenige, was sie dort gedacht, erlebt haben, herüber in die neueren Zeiten. Auf diesen Zusammenhang muss hingeblickt werden.
Wie soll man zum Beispiel das Folgende verstehen, das durch unsere Zeit erschütternd geht? Auf der einen Seite haben wir seit fast zwei Jahrtausenden dasjenige, was durch das Mysterium von Golgatha begründet worden ist, haben den Christus-Impuls waltend und webend durch die neuere Zivilisation in europäischen, in westlichen Gegenden. Da drinnen haben wir aber in demselben Leben, durch das dieser christliche Impuls herzerwärmend, geist-erleuchtend geht, zugleich ein anderes Element. Wir haben da drinnen alles das, was schon unsere Kinder in der Volksschule aus der modernen Wissenschaft heraus bekommen, was wir einsaugen als moderne Bildung jeden Morgen, wenn wir beim Kaffee die Zeitung lesen. Denn nehmen Sie die heutige Anschauung über den Menschen: Alles, was die Wissenschaft ins öffentliche Leben hineinbringt, was vielfach die Kunst leistet, was andere Zweige des Lebens leisten, nehmen Sie das alles – man kann nicht sagen, dass das durchdrungen ist von dem Christus-Impuls. Es geht neben dem Christus-Impuls her. Ja, viele Leute sind sogar sehr darauf aus, nur ja nicht den Christus-Impuls in die Anatomie, in die Physiologie, in die Biologie, in die Geschichte hineinfließen zu lassen, sondern das alles getrennt zu halten.
Woher kommt das? Solange wir nur sagen: Da steht diese Persönlichkeit, sie wirkt als Wissenschaftler, sie hat solch eine Erziehung genossen, sie wuchs auf, machte diese oder jene wissenschaftliche Forschung, solange wir nur sagen: Da ist ein Staatsmann, er hat diese oder jene Erziehung genossen, er hat diese oder jene liberale oder konservative Gesinnung in seinen politischen Maßnahmen vertreten -, solange verstehen wir nicht, wie durch dieselbe Zivilisation der Gegenwart auf der einen Seite der christliche Impuls fließen kann und auf der anderen Seite etwas, was gar nichts zu tun haben braucht mit dem Christentum. Woher kommt das? Verstehen werden wir eine solche Sache dann, wenn wir auf die wiederholten Erdenleben der maßgebenden Persönlichkeiten hinblicken. Da werden wir verstehen, wie aus früheren Zivilisationen die Menschen dasjenige, was sie in ihren früheren Erdenleben an Gedanken, an Willensimpulsen aufgenommen haben, in spätere Erdenepochen herübertragen. […]
Sehen Sie, lebte man sich so herauf wie ich selber aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart, so lebte man ja in derjenigen Zeit, die ich Ihnen öfter charakterisiert habe als die Zeit, in der die Michael-Herrschaft in der menschlichen Zivilisation eintrat, gegenüber der vorher dreieinhalb Jahrhunderte dauernden Gabriel-Herrschaft. Die Michael-Herrschaft, das heißt das Einfließen des sonnenhaften Michael-Impulses in die ganze Zivilisation im Fortschreiten der Menschheit, trat mit dem Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts ein. Wenn man in der Zeit, die unmittelbar auf das Hereinbrechen des Michael-Einflusses folgte und mit solchen Jugendgenossen lebte, dass man damals, also in den achtziger, neunziger Jahren, wo die Michael-Herrschaft begonnen hat, hinter den Kulissen des äußeren Geschehens sich geltend zu machen, seine Gemüts- oder Verstandesseele auszubilden hatte – Sie wissen, die bildet man aus so zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Jahr -, so lebte man ja, wenn man so recht in dieser Gemüts- und Verstandesseele lebte, außerhalb der physischen Welt. Am meisten ist der Mensch, wenn er sich erlebt, bewusst erlebt in der Gemüts- oder Verstandesseele, außerhalb der physischen Welt.
Wir gliedern den Menschen in physischen Leib, Ätherleib und Empfindungsleib. Mit dem physischen Leib steht er deutlich darinnen in der physischen Welt. Mit dem Ätherleib lebt er auch noch in der äußeren Welt, mit dem Empfindungsleib lebt er ebenfalls stark in der äußeren Welt. In der Empfindungsseele lebt er noch in ihr. Aber ganz außerhalb der äußeren Welt kann der Mensch leben, wenn er in der Verstandes- oder Gemütsseele – vor dem Erwachen der Bewusstseinsseele, die ja im fünfunddreißigsten Jahr erwacht -, wenn er also in der Verstandes- oder Gemütsseele ganz bewusst drinnenlebt. Man kann da ganz ins Seelische hineinkommen. Daher war damals, so in den achtziger, neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, die Gelegenheit gegeben für jemanden, der die Anlage dazu hatte, mit seiner Verstandes- oder Gemütsseele mehr oder weniger außerhalb der physischen Welt zu leben.
Was heißt das? Das heißt, man konnte dadurch, dass man mit der Verstandes- oder Gemütsseele außerhalb der physischen Welt lebte, in der Region, in der Sphäre leben, in die hinein gerade Michael ins irdische Leben eintrat. Denn sehen Sie, in den achtziger, neunziger Jahren, da verlief so manches, was die Menschen bewunderten, worinnen sie erzogen wurden, woran sie sich selbst erzogen. Nun, in vielen hochtrabenden Worten wird ja gerade von den neueren Literaten dieses Zeitalter geschildert.
Nehmen Sie alles, was Zeitschriften gebracht haben, was die Kunst gebracht hat, was da aufgetreten ist in den achtziger, neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, das verfließt so: 1879, 1880, 1890 und so weiter. Aber gerade in diesen Jahren gab es noch ein anderes Geschehen. Da war ein dünner Schleier, und hinter diesem dünnen Schleier, da war eine an unsere physische Welt stark angrenzende Welt. Das war das Eigentümliche vom Ende des 19. Jahrhunderts.
Das war das Eigentümliche der Zeit vor dem Ablauf des Kali Yuga – das Kali Yuga lief ja mit dem 19. Jahrhundert ab -, wie durch einen spinnwebendünnen Schleier, den nur das gewöhnliche Bewusstsein nicht durchdringen kann, war da angrenzend eine Welt: da spielte sich das ab, was immer mehr und mehr herauskommen muss in die physische Welt und was in der physischen Welt in seinen Wirkungen sich zeigen muss.
Es war in der Tat etwas Geheimnisvolles mit diesem Zeitalter vom Ende des 19. Jahrhunderts. Hinter einem Schleier spielten sich gewaltige Erscheinungen ab, die sich alle herumgruppierten um das Geistwesen, das wir als Michael bezeichnen. Da waren mächtige Anhänger Michaels, Menschenseelen, die dazumal nicht im physischen Leib waren, sondern zwischen dem Tod und einer neuen Geburt standen, aber auch mächtige dämonische Gewalten, die sich auflehnten unter ahrimanischen Einflüssen gegen das, was durch Michael in die Welt kommen sollte.
Sehen Sie, wenn ich da eben eine persönliche Bemerkung machen darf, so ist es diese: Ich selber wuchs so heran, dass ich eigentlich niemals Schwierigkeiten hatte in der Auffassung der geistigen Welt. Was die geistige Welt mir entgegenbrachte, das ging in meine Seele herein, bildete sich zu Ideen aus, konnte sich in Gedanken formen. Dasjenige, was den anderen Menschen so leicht wurde, wurde mir schwer. Ich konnte naturwissenschaftliche Zusammenhänge rasch fassen, dagegen einzelne Tatsachen wollten nicht im Gedächtnis bleiben, gingen nicht herein. Ich konnte die Undulationstheorie, die Anschauungen der Mathematiker, Physiker, Chemiker mit Leichtigkeit erfassen; ein Mineral dagegen musste ich nicht wie mancher einmal, zweimal sehen, um es, wenn es wiederum vor mich hintrat, zu erkennen, sondern das musste dreißig-, vierzigmal geschehen. Die Tatsachen der äußeren physischen Welt boten mir Widerstand in Bezug auf das Halten, das Auffassen. Ich konnte nicht leicht heraus in diese physisch-sinnliche Welt.
Dadurch musste ich drinnenstehen in dieser Welt hinter dem Schleier, mit der ganzen Verstandes- und Gemütsseele, in dieser Region des Michael, musste mit durchmachen, was sich da abspielte. Da traten eben die großen Forderungen auf, nun einmal mit dem geistigen Leben Ernst zu machen, Fragen aufzuwerfen von solcher Größe. Das äußere Leben bot dazu keinen Anlass. Das äußere Leben schrieb die alte philiströse Biographie von Darwin und Bacon weiter. Aber da, hinter den Kulissen, hinter diesem dünnen Schleier, in der Region des Michael, da wurden die großen Lebensfragen aufgeworfen. Und da lernte man vor allen Dingen das eine kennen: Was für ein großer Unterschied es ist, in seinem Herzen diese Frage aufzuwerfen – und in Worten darüber zu sprechen.
Der heutige Mensch meint: Über das, was man weiß, kann man in Worten sprechen. Es wird ja auch so schnell wie möglich alles, was der heutige Mensch erfährt, in Worte umgesetzt und in Worten ausgesprochen. Die Fragen, die in der Region des Michael gerade in den achtziger, neunziger Jahren spielten, diese Fragen wirkten weiter, wenn sie sich auf einen Menschen ablagerten, sie wirkten weiter in das 20. Jahrhundert herein. Und jedes Mal, wenn man schon jahrzehntelang unter dem Einfluss dieser Fragen stand und lebte, dann war es dennoch so, wenn man die Dinge aussprechen wollte, als ob die Feinde des Michael immer kämen und einem die Zunge festhielten, denn es sollte über gewisse Dinge nicht gesprochen werden.
Und, sehen Sie, auch im Schoße der anthroposophischen Bewegung musste vieles noch weiter fortgetragen werden, was gewissermaßen Michael-Geheimnis geblieben ist. Dazu gehörten vor allen Dingen diejenigen Wahrheiten, die sich auf solche historischen Zusammenhänge bezogen. Seit einiger Zeit kann über diese Dinge rückhaltlos gesprochen werden. Es sind nun seit Monaten Möglichkeiten vorhanden – gerade auch für mich ist es möglich geworden -, über diese Dinge rückhaltlos zu sprechen. Daher geschieht es und ist geschehen und soll auch hier geschehen, dass über die Zusammenhänge in den Erdenleben nunmehr rückhaltlos gesprochen werden kann. Denn das hängt zusammen mit der Enthüllung der Michael-Geheimnisse, die in dieser Weise, wie ich es Ihnen beschrieben habe, sich abspielten.
Das ist eines von den konkreten Dingen, von denen ich vorher abstrakt gesprochen habe. Ich sagte im ersten Teil mit Bezug auf eine Eventualität: dass die geistige Welt sich hätte versagen können. Sie hat sich nicht versagt. In der Tat, durch alles dasjenige, was namentlich seit der Weihnachtstagung der Anthroposophischen Gesellschaft zu geben möglich geworden ist, durch die Art und Weise, wie es mir gestattet ist, seit jener Zeit selber okkult zu arbeiten – es sind ja nicht neue Dinge, man kann im Okkulten nicht Dinge, die man gestern entdeckt hat, sofort heute mitteilen, es sind alte Dinge, Dinge, die erlebt worden sind in der Weise, wie ich es Ihnen dargestellt habe -, aber hinzugekommen ist, dass die Dämonen schweigen müssen, welche vorher die Dinge nicht haben aussprechen lassen.
Damit ist auf einen solchen Umschwung hingewiesen, und ich erzähle Ihnen diese Sache aus dem Grunde, damit Sie mit dem nötigen Ernst es erfassen, wenn von konkreten wiederholten Erdenleben bei bedeutenden und unbedeutenden Persönlichkeiten in der Zukunft gesprochen wird. Man darf diese Dinge nicht leicht nehmen, man darf sie nur hinnehmen, indem man vor ihnen den nötigen Respekt hat.“
Rudolf Steiner am 12.08.1924 in der GA 240 („Esoterische Betrachtungen karmischer Zusammenhänge“), S. 206 ff.
x